Stadtteilzeitung Hildesheim West
Nr. 238 · Mai 2013
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Altlasten an der Pappelallee werden entsorgt

Möglichst wenig Wunden in der Stadt

(sbr) „Frau Brand, wir sind damit beschäftigt, wir kümmern uns um die Sportplätze – der belastete Boden wird entsorgt.“ Das verkündete Oberbürgermeister Kurt Machens vor gut einem Jahr beim Moritzberger Neujahrsempfang 2012 in der Christuskirchengemeinde. Mit der Forderung „Schützenwiesen in Schuss bringen“ hatte Moritz vom Berge kurz zuvor wieder einmal an die lange verschleppte Beseitigung der Altlasten an der Pappelallee erinnert (www.moritzvomberge.de, Ausgabe Februar 2012).
Schuetzenwiese Die Schützenwiese nördlich der Pappelallee wird im Sommer gründlich saniert: blei-, cadmium- und dioxinhaltige Altlasten sollen komplett entsorgt werden
Foto: sbr
Ein weiteres Jahr ist vergangen, umfangreiche Mittel des Förderprogramms Stadtumbau West sind längst für die Sanierung der ehemaligen Sportplätze eingeplant – ein Drittel der Kosten wird das Land zahlen, ein Drittel der Bund. Das restliche Drittel wird die Stadt tragen müssen. „Nun geht es wirklich los“, bestätigte Stadtbaurat Dr. Kay Brummer kürzlich im Gespräch mit Moritz vom Berge. „Die Ausschreibung läuft an – für so einen ungewöhnlichen Auftrag muss man erst einmal geeignete Anbieter finden. Wir werden den Auftrag an ein Ingenieurbüro vergeben. Ich rechne damit, dass die Arbeiten spätestens im Juli oder August beginnen.“

Verschiedene Möglichkeiten, mit dem belasteten Boden umzugehen, waren seit Bekanntwerden der Dioxinverseuchung 1991 erwogen worden. Das Umweltministerium in Hannover hatte damals das „Auskoffern“ und die Zwischenlagerung des belasteten Erdreichs in Containern empfohlen. Das geschah aber nicht, die Sportplätze blieben nur vorübergehend für die Nutzung gesperrt. Eine acht bis zehn Zentimeter dicke Schutzschicht gegen das Ausstauben des hoch gefährlichen Gifts Dioxin wurde 1997 auf dem nördlichen Hartplatz aufgebracht. Ein Bodengutachten in 2008 ermittelte aber wieder hohe Dioxinwerte – auch für die angebliche Schutzschicht.

Stadtbaurat Brummer schloss deshalb im Frühjahr 2009 den Sportplatz für jede Nutzung. Damit zog er den Zorn der Sportler und der Funktionäre der DJK Blauweiß auf sich – 17 Jahre lang hatte der Sportverein es abgelehnt, auf einen anderen Platz umzuziehen. „So etwas bin ich gewohnt“, sagt Brummer, „es bestand aber Gefahr für die Gesundheit – da musste ich handeln“. Der Umgang mit Altlasten aus der Industrie, speziell aus dem Bergbau, gehörte zu Brummers wichtigsten Aufgaben als Kreisbaurat in Goslar von 2001 bis 2008. Dort ging es zum Beispiel um Schulen, die direkt an Halden der alten Bergbaubrachen gebaut waren.

Der tausendjährige Bergbau im Harz – dem „Ruhrgebiet des Mittelalters“ –  hat seine Altlasten über die Flüsse bis nach Hildesheim getragen: Der Erdboden der Sportanlagen an der Pappelallee ist nicht nur durch das Dioxin im Kunstbelag von Plätzen und Laufbahn verseucht, sondern auch durch die Schwermetalle im „Pochsand“ aus dem Bergbau. Die Innerste trug den Sand mit sich fort und hat ihn bei jeder Überschwemmung in der Flussaue, auch auf den Moritzberger Wiesen und Sportplätzen, abgelagert (www.moritzvomberge.de, Ausgabe November 2006).

„Natürlich kann Dioxin ausstauben und verfliegen – dann belastet es auch die umliegenden Flächen“, erklärt Brummer. Im Sommer 1992 war deshalb die Laufbahn auf dem DJK-Sportplatz berieselt worden. „Das Dioxin wird auch durch Regenwasser und durch kleine Organismen tiefer ins Erdreich getragen, auf das Grundwasser zu.“ Das Niedersächsische Bodenschutzgesetz von 1999 zwingt nun zum Handeln, die Gelder des Stadtumbau West geben der verschuldeten Stadt die Chance dazu.

Die Lage des dioxinbelasteten Sportplatzes innnerhalb der Moritzberger Innersteaue verschärft das Problem noch. Bis zum Bau der Innerste-Talsperre bei Langelsheim (1963 – 1966) wurden diese Flächen jedes Jahr überschwemmt. Regelmäßig zur Schneeschmelze im Harz war bis in die Maschstraße „Land unter“ – dann mussten Holzstege gebaut werden, damit die Anwohner zur Arbeit in die Gummifabrik gelangen konnten.

In Zukunft sind laut Dr. Brummer Überschwemmungen von der Innerste bis ans Phoenixgelände wieder möglich. Einerseits nimmt das Hochwasserrisiko aufgrund extremer Wetterlagen zu, andererseits werden die Talsperren im Harz nicht mehr vorrangig zur Regulierung des Wasserstandes in den Flüssen eingesetzt. Hauptaufgabe ist die Trinkwasser-Bevorratung – „Trinkwasser wird als  Wirtschaftsgut gehandelt“, führt Brummer aus, „der Hochwasserschutz wird auf die Kommunen abgewälzt“. Ein errechneter „Hochwasser-Quotient“ zeigt an, wie wahrscheinlich es ist, dass ein schweres Hochwasser einen Landschaftsteil überschwemmt. Die städtischen Gremien werden sich in den nächsten Wochen mit dem Thema beschäftigen, weil die Stadt Vorsorge für mögliche „Jahrhunderthochwasser“ treffen muss.
Dr. BrummerWie sehen die Folgen auf Dauer aus? – Für Stadtbaurat Dr. Kay Brummer, hier im Sommer 2012 bei der Ijsbörn-Aktion von Greenpeace am Rathaus, ist die Nachhaltigkeit seiner Planungen oberstes Ziel
Foto: Hauke Hoffmann, Greenpeace Hildesheim
Eine Überschwemmung der Sportplätze an der Pappelallee hätte schwerwiegende Konsequenzen wegen der Weiterverbreitung der dioxinhaltigen Teilchen im Erdreich. Allein schon deshalb muss die Bodensanierung zügig erfolgen. Die Neuregelung der Hochwasserrichtlinien stellt die Planungen für die ehemaligen Sportplätze aber noch vor andere Probleme: „Vorläufig müssen wir die Flächen wegen der Hochwassergefahr als nicht bebaubar betrachten“, erklärt Brummer. „An sich liegen die Sportplätze günstig für ein neues Wohngebiet. Es würde kürzere Wege für den Verkehr, Müllabfuhr, Rettungsdienste mit sich bringen als ein Baugebiet vor der Stadt. Die vorhandene Struktur innerhalb der Stadt soll optimal ausgenutzt werden, deshalb hat für uns die Innenentwicklung Vorrang vor der Außenentwicklung.“

Wegen der Hochwassergefahr muss aber neu geplant werden, möglicherweise wird die gesamte Fläche angehoben, denn hier gilt Hochwasser-Quotient 100 – das heißt: Eine Überschwemmung ist einmal in 100 Jahren wahrscheinlich. Brummer führt aus: „Zu bedenken ist auch, das wir das Problem nur verschieben, wenn wir dem Fluss eine Möglichkeit zum Ausgleich durch natürliche Überlaufflächen wegnehmen.“ Dann tritt er eventuell anderswo über die Ufer – wenn nicht unterhalb des Moritzberges, dann in Richtung Sarstedt.
Um die grundsätzlichen Ziele verständlich zu machen, erläutert Kay Brummer sein Gesamtkonzept: „Ich möchte eine möglichst heile Stadt mit möglichst wenig Wunden hinterlassen. Wir müssen mit unseren Planungen und Bauvorhaben immer wieder gegen Fehlentwicklungen ansteuern, weil wir das natürliche Gleichgewicht verändert haben. Das ist nicht wirklich Fortschritt. Wir sollten uns fragen: Was will die Natur? Letztlich müssen wir uns nach ihr richten. Die Folgen unseres Handelns müssen bedacht werden – was es für die Zukunft auslöst, wie die Sache in einigen Jahren oder Jahrzehnten aussehen wird. Das ist Nachhaltigkeit in der Stadtentwicklung.“

Auf der Schützenwiese ist die Bodensanierung gründlich und nach dem Prinzip der Nachhaltigkeit geplant. Ein Altlastengutachten hat geprüft, wo auf dem Gelände Belastungen von welcher Art und bis in welche Tiefe vorliegen. „Das wird alles entsorgt“, bestätigt Brummer. Im städtischen Haushalt sind dafür vorsorglich zwei Millionen Euro vorgesehen.
    

Die Vorgeschichte

(sbr) Im Sommer 2013 werden die roten Beläge der Sportanlagen an der Pappelallee entsorgt. Sie sind ein Abfallprodukt der Kupferverarbeitung im zweiten Weltkrieg und enthalten hohe Konzentrationen des als Seveso-Gift bekannten Dioxins. Die westfälische Firma Balsam AG hatte in den 1950er und 1960er Jahren mit dem Verkauf der Schlacke unter dem Namen „Kieselrot“ bundesweit gute Geschäfte gemacht. 1991 wurde die gesundheitliche Gefährdung durch die Balsam-Sportböden bekannt. Über 300 Sportplätze und Spielplätze wurden geschlossen. Die Firma Balsam AG ging Mitte 1994 in Konkurs – wegen Bilanzverschleppung und Betrug in Milliardenhöhe machte sie in der „Balsam-Affäre“ noch jahrelang Schlagzeilen.

In Hildesheim war nur ein Sportplatz von der Balsam AG „saniert“ worden: An der Pappelallee hatten die Laufbahn und der nördliche Hartplatz 1965 einen „Kieselrot“-Belag bekommen. Die 1991/92 ermittelten Werte des Gehaltes an Dioxin gehörten zu den höchsten in Niedersachsen gemessenen: bis zu 62.000 Nanogramm. Schon Werte um 100 Nanogramm galten Anfang der 1990er Jahre als zu hoch für Kinderspielplätze. Die dioxinhaltigen Beläge gehören auf die Sondermülldeponie. Wegen der hohen Kosten für die Entsorgung wurde das Problem 22 Jahre lang wissentlich liegen gelassen.
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